Peter Weibel

Wo der Ingenieur vor einer Wand steht, geht der Künstler durch eine Tür

Das Interview führte Thomas Friedrich Koch, Leiter der Landeskulturredaktion des SWR 2

 

Peter Weibel ist seit 1999 Vorstand des ZKM/Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe und leitete ebenso wichtige institutionen wie die ars Electronica/Linz und das Institut für Neue Medien an der Städelschule Frankfurt.

Interview mit Prof. Dr. Peter Weibel Okt. 2011

Das Zentrum für Kunst und Medientechnologie  Karlsruhe

 Thomas F. Koch: Erst in diesem Juli haben Sie einen neuen Kunstpreis ausgelobt, den App-Art-Award, einen Preis für Applikationen für Handys und für tragbare Computer. Warum sind Apps Kunst?

Peter Weibel: Erstens muss man sich an die Geschichte des Bildes und an seine Verortung erinnern. Die ursprünglichen Bilder waren ja Höhlenzeichnungen und dann Fresken in Villen und Kirchen. Das heißt, sie waren ortsgebunden an eine Wand. Dann wurde das Tafelbild erfunden – die erste Phase der Mobilität. Und das Tafelbild ist deshalb so erfolgreich geworden, weil es mobil ist. Jetzt hat sich in der zweiten Phase und tatsächlich eben durch diese tragbaren Telefone und durch die portablen Computer die Mobilität des Bildes gesteigert.

Dann gilt zweitens, dass ich normalerweise bei diesen Bildern selbst als Gestalter nicht mitarbeiten kann. Ich bin gewissermaßen externer Beobachter. Aber bei diesen Apps bin ich interner Beobachter. Ich kann den Inhalt der Apps mitgestalten. Das, was seit ungefähr 50 Jahren der einzigartige Triumph der Medienkunst ist, die Interaktivität, aber dort wiederum ortsgebunden war, im Rahmen einer Installation, kann ich hier mobil machen. Also ist das Bild mobil geworden und das Interaktionsprinzip ist mobil geworden. Jetzt kann man fragen, genügt das für die Kunst? Die Antwort: Die Kunst selbst hat ja im 20. Jahrhundert ein universelles visuelles Vokabular der Abstraktion (lyrische, informelle, geometrische Abstraktion) entwickelt. Sie hat neue Musikformen entwickelt, sei es Zwölftonmusik, Serielle Musik, Zufallsmusik usw. Sie hat grafische Notationen entwickelt. Das sind die Voraussetzungen. Wenn ich jetzt ein mobiles interaktives Endgerät habe, und ich diese Formensprache wieder anwenden kann, sowohl die musikalische wie die visuelle Formensprache der Avantgardekunst, wieso soll ich dann sagen, das ist nicht Kunst?

Koch: Soweit die abstrakte Beschreibung. Können Sie Beispiele nennen für Applikationen, die etwas gewonnen haben?

Weibel: Beispielsweise haben Sie an einem Handy einen Fotoapparat. Damit nehmen Sie die Umgebung auf. Dann gibt es einen Algorithmus, der das, was der Fotoapparat sieht, also die reale Gegenstandswelt selbst, umwandelt in grafische Muster à la Mondrian oder Kandinsky, und es gibt einen zweiten Algorithmus, d.h. eine zweite Kodierung, die dieses Muster wieder umwandelt in Töne. Das bedeutet, indem Sie mit diesem Smartphone ihre Umwelt ablichten, also fotografieren, wird die Wahrnehmung dieser konkreten Gegenstandswelt wieder verwandelt in die Bildsprache eines Max Bill oder eines Lohse oder eines Mondrian und gleichzeitig wieder verwandelt in Töne. Das heißt, Sie machen automatisch selber Bilder und Töne, nur indem Sie Ihre Umgebung fotografieren.

Koch: Das große Thema dieses Symposiums in Dortmund war ja „Kunst fördert Wirtschaft“, d.h. inwieweit gibt es eine Interaktion und eine Beförderung der Wirtschaft durch das, was die Kunst einbringen kann. Sehen Sie das in diesem Fall? Profitiert da die Wirtschaft von der Kunst?

Weibel: Mein Slogan ist immer: Wo der Ingenieur vor einer Wand steht, geht der Künstler durch eine Tür, weil der Künstler mit den technischen Voraussetzungen, die der Ingenieur geschaffen hat, mehr anfangen kann als der Ingenieur selbst. Das heißt: die Industrie liefert die Endgeräte, aber es reicht, ganz ehrlich, die Fantasie der Erzeuger, der Ingenieure und Softwareleute nicht aus, um das zu zeigen, was das Gerät kann. Das ist genau das Gleiche wie bei der Malerei. Maler und Anstreicher in Ehren, aber sie können kein Gemälde machen. Dafür braucht man Spezialausbildungen. Ingenieure und Softwareingenieure sind wie Maler und Anstreicher. Sie können nicht das mit dem Gerät machen, was ein Künstler kann. Ganz individuell fördert die Kunst die Wirtschaft, wenn sie deren Geräte erst zum Tanzen und zum Glühen bringt.

Koch: Was könnte der Ingenieur noch vom Künstler lernen, abgesehen von dieser Perfektionierung des Instrumentariums?

Weibel: Der Ingenieur ist der Realität zugewandt. Er folgt dem Realitätsprinzip, der Ökonomie, der Notwendigkeit, der Künstler dem Lustprinzip, der Verschwendung, der Fantasie. Der Künstler sucht immer Möglichkeiten und Optionen. Das ist das Wesen der Imagination. Der Künstler ist für mich das Sinnbild des Unternehmers. Es gibt doch dieses schöne Buch von Svetlana Alpers, der berühmten Rembrandt-Forscherin. Das heißt auf Englisch „Rembrandt‘s Enterprise“ mit diesen Nebentönen zum Raumschiff Enterprise, auf Deutsch „Rembrandt als Unternehmer“. Der Künstler ist gewissermaßen das Sinnbild des Unternehmers, er ist auf sich alleine gestellt, hat dann je nach Auftragslage 10 oder keine oder 40 oder 100 Assistenten und produziert tatsächlich auf dem freien Markt nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage. Also wenn jemand ein freier Unternehmer ist, dann ist es der Künstler. Und damit er das durchhält, damit er als solcher überleben kann, muss er extrem innovativ und extrem kreativ sein. Der Künstler ist der Prototyp des Kapitalismus gemäß dem Ökonomen Schumpeter, der von der »kreativen Zerstörung« als Wesen des Kapitalismus sprach.

Koch: Kommen wir zu dem Haus, dem Sie vorstehen, dem ZKM, dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie – jetzt schon mehr als 20 Jahre alt – eine Institution, die mehr ist als nur ein Museum. Es wird also ausgestellt aber auch geforscht und produziert. Warum ist das für Sie substantiell?

Weibel: Weil die Medienkunst in der gleichen Lage ist wie das Theater und die Oper. Es kann ein Künstler oder ein Autor eine Oper schreiben, aber er hat nicht die finanziellen Mittel, dass er sie aufführen kann. Es kann ein Autor ein Theaterstück schreiben, aber er hat nicht die finanziellen Mittel, es  aufführen zu können. Er braucht Schauspieler, braucht einen Bühnenbildner. Das heißt, der Staat, die Gesellschaft muss diesen Künsten Institutionen zur Verfügung stellen, in denen die Werke verwirklicht werden können.

Und die Medienkunst ist genauso. Große Medienwerke überschreiten die finanziellen Möglichkeiten von einem Individuum. Das heißt: wenn ein Künstler eine Idee hat und nicht die Möglichkeit, sie finanziell umzusetzen, und er auch noch andere Hilfe braucht, gewissermaßen technische Hilfe, Ingenieurshilfe, Programmierhilfe, (weil er sonst drei Jahre arbeiten kann und trotzdem nie fertig wird), dann kann er zu uns kommen. Wir sind eine Art Mischung zwischen Universität, Grundlagenforschung und andererseits Opern und Theater.

Koch: 20 Jahre ZKM. Damals war das ganz neu, wegweisend und kühn und Sie sagen nun, diese gefühlte Kühnheit vom Anfang ist weg. Wieso?

Weibel: Alle anderen Museen haben nachgezogen. Und wenn jetzt neue Museen gegründet werden in Asien, kommen alle vorher zu uns und schauen sich das alles an. Jetzt wird wieder ein großes Museum in Hongkong gebaut. Der neue Direktor ist Lars Nittve, der ehemalige Direktor vom Modernen Museum in Stockholm. Der war jetzt hier bei uns. Die schauen sich an, wie das hier funktioniert und übernehmen unser Modell. Das ist ein Erfolg, aber gleichzeitig nimmt es uns das Alleinstellungsmerkmal.

Koch: Wichtig ist für Sie auch: Sie haben so etwas wie ein Mitmachmuseum. Als Besucher kann man ganz viel machen. Kritiker haben Sie auch einmal als Spielothek bezeichnet. Was entgegnen Sie denen?

Weibel: Also, ich würde sagen, ich bin stolz, dass wir ein performatives Museum sind, denn das bedeutet, dass wir ein demokratisches Museum sind, weil Demokratie nichts anderes ist als eine Mitmachgesellschaft. Demokratie ist eine Spielothek. Joseph Beuys hat gesagt –  Sie kennen die Postkarte –  ‚Demokratie ist lustig‘. Das sieht man an der Bewegung Stuttgart 21. Die Bürger wollen mehr denn je mitmachen. Bisher durften sie nur einmal mitmachen, indem sie alle 4 – 5 Jahre einen Wahlzettel ankreuzen. Hier lernen die Bürger, wie das ist, wenn man mitmachen kann, auch die Grenzen und den Rahmen, in dem man mitmachen kann.

Koch: Wie wichtig ist es für die Medienkunst selbst, überhaupt wahrgenommen zu werden. Also die klassische Kunst, die High Culture, ist ja schon ein bisschen mehr vorne und Sie ein bisschen weniger beachtet, bei all den internationalen Erfolgen, die Sie haben. Wie wichtig ist die Wahrnehmung, dass das ins öffentliche Bewusstsein dringt?

Weibel: Also da gibt es zwei Dinge zu sagen, Herr Koch. Der erste Satz stimmt nur bedingt. Die sogenannte Hochkultur  ist meiner Meinung nach deswegen so erfolgreich, weil sie sich schon längst verraten hat. Es gibt sie gar nicht mehr. Sie ist ein Etikettenschwindel. Die sogenannte Hochkultur ist schon längst eine vulgäre Trivialkultur geworden. Es kann niemand behaupten, dass die Gemälde von Andy Warhol, Siebdrucke, die gar keine Gemälde sind, Siebdrucke von Bildern der Massenmedien, von Elizabeth Taylor bis zu Coca Cola usw., dass es sich hierbei um Hochkultur handelt. Es ist Klatschmalerei, gossip painting. Das Schlimme ist, dass so getan wird, als wäre das Hochkultur. Nur: alles, was man heute in den meisten Museen findet, ist das, was ihr im Bahnhof sowieso findet. Gemalte Witze, aufgeblasene Fotos von nackten Bikerbräuten, Pornographie, Kitsch, Sport. Das alles finde ich im Bahnhof. Das heißt, die Hochkultur hat sich selbst verraten, um Aufmerksamkeit zu gewinnen. Gewissermaßen bedient sie den Markt mit den Methoden des Marktes und mit seinen Inhalten. Die Medienkultur dagegen, das ist jetzt mein Standpunkt, hat sich eben nicht verraten. Wir machen noch hochkomplexe Kunstwerke, wir machen keinen Kitsch à la Koons. Wir machen keine Totenköpfe, grauenhafter Kitsch mit Swarovski-Diamanten, wie Hirst. Wenn das der Preis ist, um Aufmerksamkeit zu haben, dann sage ich, machen Sie nur ruhig so weiter, denn in zehn Jahren implodiert die Kunst, dann will das keiner mehr sehen. Wir, d.h. die Medienkunst, ist ja die eigentliche Hochkultur. Wir haben noch die Allianz von Technik, Wissenschaft und Inhalt. Die sogenannte Hochkultur hat das ja gar nicht mehr. Wir sind die Erben von Leonardo da Vinci.

Koch: Sie haben selbst gesagt, die Medienkultur ist hochkomplex und deswegen auch ein neuer Begriff für Hochkultur. Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang die Vermittlung? Sie betreiben ja auch Kunstvermittlung für Jugendliche. Wie wichtig ist das?

Weibel: Massiv. Wir haben an die 30 Freiberufliche, die davon leben, Vermittlungsleute, die wir ständig für Führungen engagieren. Wir haben eigene Räumlichkeiten. Wir machen Workshops für Lehrer, wir machen Workshops für Schüler. Und um noch eins draufzusetzen: Wir machen sogar Kreativitäts-angebote. Wir arbeiten mit Schülern und mit Lehrern effektiv, um den Schülern – und auch den Lehrern –beizubringen wie viele Methoden es gibt, mit denen man innovativ und kreativ sein kann. Nur wenn wir das Publikum auf dieses Niveau ziehen, wo die Künstler sind, gibt es eine Kunstgemeinschaft. Das ist ja die Aufgabe der klassischen Kunst, dass sie die Komplexität der Welt nicht einfach reduziert, wie das die Politik macht, sondern wir wollen es umgekehrt machen, dass die Besucher des Museums mit unserer Hilfe an die Komplexität der Welt herangezogen werden. Und das schaut zumeist so aus: Wir zeigen einen Film, einen sehr schwierigen Avantgarde-Film. Dann zeigen wir daneben am Computer, wie das gemacht wurde. Daneben ist nochmal ein Tisch, wo der Student dann üben kann, ob er diesen Film auch machen kann. Er sieht zum Film sofort die Gebrauchsanweisung, wie das geht. Und dann ist es tatsächlich oft so, Herr Koch, dass da ein Achtjähriger sitzt und zu seinem Vater sagt: „Papa, ich hab dir’s schon zweimal gezeigt. Verstehst Du es jetzt, oder soll ich es Dir nochmal zeigen?“

Koch: Großes Thema in der Dortmunder ID-factory ist das sogenannte nonlineare Denken, das Wegkommen von hergebrachten Denkstrukturen, die einfach nur von A nach B nach C führen. Findet im ZKM nonlineares Denken statt?

Weibel: Absolut. Das ist auch mein Credo. Ich sag immer (also als Bild): wenn man in die eine Gehirnhälfte Wasser schüttet, weiß man nicht, wo die Blume dann herauskommt. Es ist nicht wichtig, von welcher Kopffläche die Blume herauswächst, sondern die Fantasie und die Kreativität sind ein Irrgarten. Wir können da bestimmte Koordinaten anlegen. Man kann da schon ein bisschen was lernen, aber damit etwas innovativ und kreativ wird, muss man einfach die Freiheit haben, auch ziellos denken zu können.

Koch: Zuletzt noch zwei persönliche Fragen heute, Herr Weibel. Sie sind ein renommierter Professor mit wirklich riesigen Erfolgen. Sie haben u.a. den österreichischen Pavillon für die Biennale mehrere Jahre betreut, haben in den 60er und 70er Jahren aber mit spektakulären Kunstaktionen auf sich aufmerksam gemacht. Damals war das in Wien sehr en vogue. Sie ließen sich von Valie Export an einer Hundeleine durch Wien führen. Was ist denn davon geblieben für Ihre Arbeit heute?

Weibel: Ich glaube, der Mut, der damals notwendig war, so etwas zu machen, der ist bis heute geblieben, und dass ich immer noch über den Rand des Suppentellers hinausschauen kann, wie z.B. beim App Art Award. Dabei ist dies ja eine Idee, die an sich auf der Hand liegt.. Zufälligerweise und erstaunlicherweise sind wir die Ersten, die das weltweit machen. Das könnte ja jemand machen in Hongkong oder New York. Aber wir haben es weltweit als erstes gemacht. Dass ich immer noch an der Spitze liege, an der Front der Forschung, zu finden, wo sind neue Tendenzen, wo sind neue Möglichkeiten? Das ist etwas, was mir von den 60er Jahren geblieben ist.

Koch: Sie wurden damals auch polizeilich gesucht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und die Boulevardpresse hat eine regelrechte Hetzjagd veranstaltet. Ist das heute überhaupt noch denkbar?

Weibel: Ich sage immer, heute ist es anders. Früher, wenn wir eben so etwas gemacht haben, ist man im Gefängnis gelandet. Wenn man heute das gleiche macht, landet man in Bayreuth. Sie wissen, wen ich meine? Also, die Voraussetzungen haben sich sehr geändert, daher bin ich ja auch nicht mehr für diese Art von Protesten. Das einzige, was mir geblieben ist, ich bin gewissermaßen durch diese Beschimpfungen durch die Behörden und durch die Presse etwas abgehärtet. Das heißt, wenn ich heute Kritik erfahre, egal durch wen oder durch welche Situationen, nehme ich sie ernst, aber sie lässt mich innerlich kalt. Und das ist der Vorteil. Denn wenn wir eine Ausstellung machen, beispielsweise über Kunst in der Türkei, dann kommt es schon vor, dass der Botschafter oder jemand anderer sagt, diese Arbeit müssen Sie abhängen, sie beleidigt unsere Nation. Und dann kriege ich Anrufe von der hohen Politik und alle Mitarbeiter sagen, ‚das muss unbedingt weg, wir können uns das nicht leisten‘. Dann sag ich immer ganz ruhig: ‚Kinder, es wird nicht abgehängt.’ Man lernt ein bisschen den Umgang in der Welt. Man lässt sich nicht gleich durch alles irritieren und von seinem Ziel abbringen.

 

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