WORUM GEHT'S?

Zeichnung von Werner Preißing, BfI

NON-LINEARES DENKEN UND HANDELN ENTWICKELN:

IMPROVISATIONSKRAFT, ERFINDUNGSGABE UND PROBIERBEWEGUNGEN

 

Ursula Bertram / Institut für Kunst und Materielle Kultur, [ID]factory, Technische Universität Dortmund: Zur Forschung des Zentrums für Kunsttransfer 2012

Vorab: Das künstlerisch-schöpferische Denken ist weder eine Kreativitätstechnik noch geht es darum, Bilder zu malen oder Plastiken herzustellen. Das ist ein Vorurteil, das wir abschütteln müssen: Creativity is not a Prisoner of Art. Vielmehr liegt das künstlerische Denken, genau wie das wissenschaftliche Denken, eine Ebene darüber. Künstlerisches Denken kann sich überall befinden, in allen Köpfen, in jeder Disziplin, in jedem Lebensbereich. Es ist das Denken, das übrig bleibt, wenn ich letztlich die „Bilder“ abziehe. Es ist eine Haltung, die sich in der Zuwendung ins Offene zeigt auf einer Art Flüssigkeitsmatrix des Möglichen zwischen Begeisterung, Neugierde, Achtsamkeit und der Lust der Begegnung, auch mit sich selbst. Es ist das non-lineare, schöpferische Denken und Handeln, das sich auf ein Navigieren in offenen Systemen mit mehreren Unbekannten versteht. Wir sollten es entwickeln, wenn wir weiterhin in der Balance bleiben wollen in einer Arbeitswelt, die Unsicherheit und permanente Neuorientierung als systemimmanent begriffen hat.

Es ist nicht die Frage, wie wir das kostbare Gut eines Schöpfungsprozesses nennen, sondern dass es uns zur Verfügung steht: täglich, verlässlich und perspektivisch. Innovationskompetenz, Erfindungsgabe, laterales Denken (de Bono), inventive Organisation (Mauzy/Harimann), Improvisationskunst (Dell), Probierbewegungen (Popper) oder schlicht künstlerisches Denken und Handeln (Bertram) sind einige Stichworte, die aus dem in die Jahre gekommenen melting-pot der Kreativität als Freizeitvergnügen ein begehrenswertes Lebens-Mittel für hochkomplexe Entwicklungsprozesse in Wirtschaft und Wissenschaft gemacht haben. Aus den unterschiedlichsten Fachperspektiven ebbt die Frage nach der Zusammensetzung dieses Lebens-Mittels und seiner Bedeutung für die zukünftige Entwicklung nicht mehr ab. Ohne Zweifel ist der Wert von Schöpfungspotenzial heute erkannt. Hunderte von Forschungsprojekten in den Wissenschaften fahnden daher nach einem Muster der Innovationsfähigkeit und ihrer Provenienz, nach Bedingungen, Voraussetzungen und evaluierbaren Prozessen. Wenn ein effektiver Weg und eine Garantie für die Heranbildung von Erfindungspotenzial nachgewiesen wären, würde dies vermutlich wie das Feuer des Olymps in die etwas atemlose Wirtschaftswelt getragen. Arbeitssoziologen, Bildungswissenschaftler, Innovationsmanager, Wirtschaftsexperten und Biochemiker haben in der Vergangenheit darüber nachgedacht, wie Innovation zu generieren sei und ob innovative Prozesse übertragbar sind. Nur selten saß man dazu an einem Tisch. Es wurde alles einzeln unter die Lupe genommen: die Kunst, die Musik, die Neurologie, die Nanotechnologie, die Biogenetik und andere Forschungsfelder.

Auf diesem Weg wurde beispielsweise die semipermeable Haut des Frosches als Vorbild für neue Oberflächen in der Werkstoffindustrie entdeckt. Die neuen Mikroskope im Nanobereich erlauben einen präzisen Blick. Die Innovation bestand in der Imitation der Natur. Der Frosch ist der genuine Innovator. Er hat die Haut in ein paar Millionen Jahren eines genetischen Prozesses generiert. Wie werde ich also zum Frosch, ohne einige Millionen Jahre in der Innovationsabteilung zu verbringen? Können Kreativtechniken diesen Prozess auf ein paar Stunden verkürzen? Und verfügen Künstler, deren Werke bekanntlich aus bis zu 100 Prozent Innovation bestehen, über die Formel der Schöpfungskraft? Zweifelsohne entstand in der Insellage Kunst ein stabiles Innovationspotenzial über Jahrhunderte, dessen Geheimnis inzwischen auch für Ökonomen von großem Interesse ist. Hier gibt es keine Regeln, keine Zielvorgaben und keine Konventionen, wie dies sonstige Organisationsstrukturen aufweisen. Lässt sich, wie beim Frosch, hier etwas Entscheidendes imitieren? Und wie sieht das unter dem Mikroskop aus? Ist ein Muster erkennbar?

Popper spricht von Probierbewegungen. Das sind experimentelle Bewegungen. Das probeweise Verrücken oder auch Verrücktsein, gepaart mit extremer Wachsamkeit für das Umfeld und dem Willen, sich genauso gerne zu verlieren, wie sich durchzusetzen, das sollte jeder lernen dürfen. Allerdings braucht das Raum und Zeit, viel Zeit. Wenn wir diese Kompetenz perspektivisch nicht bereits in der Schule ausreichend fördern, wird uns das Potenzial für Neuentwicklung nicht zur Verfügung stehen. Es ist unumgänglich, dass die Ausbildung in Schulen und Universitäten den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen Rechnung tragen und das traditionelle lineare ergebnisorientierte Lernen durch die Vermittlung überfachlicher, non-linearer Kompetenzen „auf Augenhöhe“ ergänzt wird. Es geht um Interdisziplinarität, flexible Sichtweisen, alternative Vorgehensweisen, vernetzte Denkvorgänge, persönliche Entfaltung und visionäre Entwicklungspotentiale als Anforderungen der Zukunft.

Wir bewegen uns gegenwärtig und zukünftig zunehmend in offenen statt geschlossenen Systemen. Während geschlossene Systeme Sicherheit, Ordnung und Orientierung bieten, die wir benötigen, um nicht jeden Tag neu erfinden zu müssen, zeichnen sich offene Systeme durch das Fehlen dieser Komponenten aus.

 

„Unser System lebt von den Suchbewegungen im Offenen als Teil einer lebendigen Demokratie, (…), Zweifel ist im wissenschaftlichen System kein Systemfehler, sondern Grundlage der Forschung, (…). Wir wissen, dass der klassische Prozess von Forschung mit späterer Anwendung längst nicht mehr Ausschließlichkeit genießt“, war von Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede am 4. Juli 2012 vor dem Auditorium der Technischen Universität Dortmund zu hören. [1] Er fügte hinzu, dass er eine Balance der Wissenschaften zwischen Beschleunigung, Ruhe und Muße empfiehlt. Den Keywords zufolge (Suchbewegungen, Navigieren in offenen Systemen, Zweifel, Entkonventionalisierung der Forschung, Entschleunigung) wollte selbst das Staatsoberhaupt die Universität ausdrücklich ermutigen Andersdenken zu wagen. Andersdenken ist ambivalent: unbequem, unbeliebt und unverzichtbar.

Der Philosoph Alexander Düttmann [2], bekannt durch sein Buch „Derrida und ich“ begründete in seinem Vortrag „What is Thinking“ [3] auf der Dokumenta13, dass „das Ungedachte der Motor des Denkens ist“ und somit das Unbestimmbare der Motor des Bestimmbaren. Er führt aus, dass sich dieser Vorgang als sehr anstrengend erweist: „Anstrengend heißt, sich in der angestrengten Offenheit zu bewegen, weil ich nicht sicher bin.“

In der Unsicherheit zu bestehen macht erst einmal Angst und kostet ungleich mehr Kraft als die Orientierung im Gewohnten. Es muss schon einiges zusammenkommen, damit das Gehirn seine Komfortzone verlässt, der Körper Kräfte dafür bereit stellt und die Vernunft signalisiert, dass sich Umwege lohnen, von denen nicht bekannt ist, ob sie zu einem Ergebnis führen. Ein solches Signal wird nur dann ausgesendet, wenn das Gehirn große Attraktivität wittert. Es sollte die Anziehung haben von einer Insel mit Palmen und Kokusnüssen auf dem blauen Pazifik und der Gewissheit etwas Unwiderrufliches zu verpassen.

Das Verlassen fester Räume ist keinesfalls bequem, weder für den, der diesen Schritt wagt, noch für den, der die Türe öffnet und Schranken abbaut. Es besteht ein großes Missverständnis darin zu glauben, dass es leicht sei, in offene Systeme überzuwechseln, bzw. offene Systeme offen zu halten. Das Loslassen von bewährten Wahrnehmungs- und Denkmustern ist eine der schwierigsten Hürden eines künstlerischen Studiums. Der Hauptanteil der Lehre von Kunst besteht im „Abbauen“, nicht im „Aufbauen“. Das Schwierigste am Kunststudium ist nicht das Produzieren, sondern das Loslassen. Der Ökonom Schumpeter spricht in diesem Zusammenhang von „kreativer Zerstörung“.

DAS ANDERE MUSTER KUNST

Und nun wird diese Insellage Kunst nicht nur als gesellschaftsfähig, sondern vielleicht sogar als betriebsfähig in Augenschein genommen. Eine unverbrauchte Ressource für anderes Handeln, deren unkonventionelle Zugangsweisen eine Art Muster für unkontrollierbare Vorgänge hervorgebracht hat. So hofft man jedenfalls. Aber dieses Muster ist schwer zu erkennen, da es sich aus der Antithese von linearer Berechenbarkeit und Logik heraus entwickelt hat, erfahrungsbasiert und in ständiger Wandlung begriffen ist. Und es kommt noch schlimmer: Das Muster der Kunst, das uns Bilder gibt, Bewegung, Tanz, Klänge, Farben und unsere Fantasie entfacht, ist kein Kleid, es ist eine Haut. Es lässt sich nicht einfach ausziehen und weitergeben. Das Muster muss mit der Person wachsen, ganz langsam, Schicht für Schicht. Es existiert nicht als käufliches Produkt, auch nicht in der Verpackung einer Kreativtechnik. Es bedarf eines Prozesses, der eine Haltung hervorbringt. Die „Abfallprodukte“ dieser Haltung erzeugen dann die Produkte. Wenn man nur die Produkte in den Mittelpunkt der Bemühungen stellt, verflüchtigt sich das Muster. Alle blicken gespannt und neugierig auf ein unsichtbares Muster, das ganz besonders wertvoll erscheint für die Felder außerhalb der Kunst und das verspricht, die Zukunft zu verändern. [4]

Längst haben sich non-lineare Vorgehensweisen nicht nur im WEB, sondern auch im Maschinenbau und der Logistik unter dem Stichwort „Industrie 4.0“ etabliert, wo die neuartige Fabrik mit einer Jazzband verglichen wird: „Es gibt ein grobes Schema, an das sich alle Maschinen halten müssen, aber es gibt auch Raum für Improvisationen“, so Wolfgang Wahlster vom deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz.

Das Zentrum für Kunsttransfer /[ID]factory stellt sich die Frage, wie in diesen offenen Systemen die Innovation im Kopf funktioniert, wie die dazu notwendigen Kompetenzen der Improvisationskraft vermittelt werden können und wie folglich künstlerisches Denken in außerkünstlerische Felder transferiert und im Bildungssystem der Zukunft wirksam werden kann.

[1] anlässlich der DFG Veranstaltung „Von der Idee zur Erkenntnis“, 4.7.2012

[2] Professor of Philosophy and Visual Culture an der Goldsmiths University, London

[3] Alexander Düttmann, What is Thinking, Vortrag am 16.7.2012 auf der Dokumenta Kassel, Ständehaus

[4] Ursula Bertram (Hg), Kunst fördert Wirtschaft, Zur Innovationskraft des Künstlerischen Denkens, Transcript Verlag 2012

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