Jean-Baptiste Joly

.... eine nonlineare Lektüre von Texten zu lernen, ist ganz wichtig, um sich von diesem sogenannten linearen Denken zu befreien.

Das Interview führte Thomas Friedrich Koch, Leiter der Landeskulturredaktion des SWR 2

 

Jean.-Baptiste Joly ist Germanist, Kurator und Kulturmanager und der Gründer und bis 2018 auch Direktor der Akademie Solitude in Stuttgart.

Interview mit Jean-Baptiste Joly

Thomas F. Koch: Die Akademie Schloss Solitude wurde 1990 gegründet – damals ein Lieblingsprojekt von Ministerpräsident Lothar Späth. Jean-Baptiste Joly, Sie waren damals Gründungsdirektor und sind es heute nach über 20 Jahren immer noch. Damals hatten Sie eine wenig schmeichelhafte Presse. Jeden Tag Knatsch, schrieb der Spiegel, und in der Süddeutschen konnte man lesen: eine gehobene Jugendherberge mit Lothar Späth als Herbergsvater. Inzwischen sind die Artikel über die Akademie deutlich respektvoller. Hat man sich an Sie gewöhnt?

Jean-Baptiste Joly: Ich glaube, man hat sich schon im ersten oder zweiten Jahr an die Akademie Schloss Solitude gewöhnt. Der ausschlaggebende Zeitpunkt war das Jury-Verfahren der Akademie, als wir gesagt haben, dass die Stipendiaten auf Solitude von einzelnen Juroren ausgesucht werden sollten, dass man sich frei für das Stipendium bewerben konnte und dass als Juryvorsitzender Johannes Cladders berufen wurde, der inzwischen verstorbene berühmte Direktor des Museums von Mönchengladbach. Da haben viele Leute in der Szene verstanden, dass es wirklich um die Kunst und die Förderung von Künstlern geht und nicht um irgendeine Kulisse für den Hof des Ministerpräsidenten.

Koch: Angedacht war die Akademie Solitude als eine Art Deutsche Villa Massimo zur Künstlerförderung. Wenn ich das richtig weiß, haben etwa 1000 Stipendiaten die Akademie inzwischen besucht. Was haben die denn bei Ihnen lernen können?

Joly: Der Vergleich mit der Villa Massimo ist immer praktisch, weil dann jeder sofort versteht, worum es geht: Um die Vergabe von Stipendien und um Aufenthalte in den Studios der Akademie. Aber der Vergleich trügt auch. Die Villa Massimo hat etwa 15 Studios. Wir dagegen verfügen über 45 Studios. Wir begrenzen die Auswahl der Stipendiaten nicht nur auf Deutsche oder in Deutschland lebende Künstlerinnen und Künstler, sondern wir schreiben weltweit aus. Und wir fördern Stipendiatinnen und Stipendiaten in allen Kunstsparten, also nicht nur Bildende Kunst, Musik, Literatur, Architektur, sondern auch darstellende Künste, auch Design, auch neue Medien und Film und seit neun Jahren auch Geisteswissenschaften, exakte Wissenschaften und Wirtschaftswissenschaften.

Was Stipendiaten bei uns lernen?

Wir sind eine Einrichtung zur Weiterentwicklung und Fortbildung von Künstlern außerhalb des Hochschulbereichs. Wir schenken den Stipendiaten eine Zeit, die ihnen gehört und nicht einer Institution. Wir geben den jungen Menschen, die wir hier fördern und die bereits ein abgeschlossenes Studium hinter sich haben (es sind keine Studenten, sondern junge professionelle Künstlerinnen und Künstler), eine Zeit, die wir eine Zeit ohne Eigenschaften nennen. Es ist eine Zeit, über die sie selber verfügen. Das ist das eine.

Das andere ist, dass man auf Menschen trifft, denen man sonst außerhalb von Solitude nicht begegnen würde. Es ist ein kleiner Mikrokosmos von Menschen aus allen Kontinenten und allen Arbeitsbereichen, der sich hier trifft. Er besteht nicht nur aus den Künsten, wie vorhin gesagt, sondern auch aus den Wissenschaften. Es ist eine Horizonterweiterung, die sehr prägend ist für die Stipendiaten, die durch dieses Programm gelaufen sind.

Koch: Es gibt inzwischen sehr erfolgreiche Namen – Karin Beier und René Pollesch zählen dazu.

Joly: Karin Beier, die jetzt Intendantin vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg ist. Vor allem der berühmte Maler Neo Rauch war in unserem Sonderprogramm „Reisestipendien für DDR-Künstler“ 1990. Da waren wir etwas weitsichtiger als viele Fördereinrichtungen. Durs Grünbein gehörte auch dazu.

Koch: Oder Raoul Schrott. Und Neo Rauch, das ist ja besonders apart, hat mit Ihrer Unterstützung seine erste Italienreise antreten können.

Joly: Wir haben einen sehr schönen Brief von ihm, in dem er seine Begegnung mit einer Freske von Giotto in Italien beschreibt. Diese erste Begegnung war prägnant für ihn und hat sicherlich dazu beigetragen, dass er von seiner expressiv abstrakten Malerei überging zu dieser zurückhaltenden und dekorativen Malerei.

Koch: Jean-Baptiste Joly, Sie sind ein deutlicher Verfechter öffentlicher Kulturausgaben, also Förderung von Kultur und Bildung durch die öffentliche Hand, und Sie bezeichnen Kultur und Bildung als Säulen der Demokratie. Wieso?

Joly: Ich bin nach wie vor in der Tradition der Aufklärung. Ich glaube nach wie vor, wenn man die Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft mit Kulturthemen konfrontiert, mit diesem Denken, das auch dazu beiträgt, dass man das eigene Leben reflektieren kann, dass man daraus sicherlich auch einen Sinn für die eigene Reflektion über seinen Platz in der Gesellschaft hat. Das sind für mich die Fundamente. Also Demokratie geht nicht ohne Aufklärung.

Koch: Stichwort: Werte. Sie haben vor einigen Jahren versucht, Kultur, Kunst und die Bereiche, die sowieso schon bislang in der Akademie angesiedelt waren, mit der Wirtschaft zu verzahnen. Es gibt ein Programm „Art, Science and Business“. An wen wenden Sie sich damit?

Joly: Ich wollte diese Bereiche der Kultur und der Kunst nicht nur mit der Wirtschaft, sondern auch mit den Wissenschaften verbinden. Wir wollten in diesem Programm die drei Domänen zusammenhaben. Ein Gesichtspunkt war die Erkenntnis der Kraft unseres Künstlernetzwerkes weltweit. Es ist ein weltweites Netzwerk von Künstlern, die sich untereinander kennen und erkennen (»ach, du warst auf Solitude?«). Das ist ein Schatz für alle, die hier im Haus waren. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn in diesem Netzwerk auch ehemalige Stipendiaten teilnehmen würden, die in völlig anderen Bereichen arbeiten – im Bereich der Wissenschaften oder der Wirtschaft, wenn sie diese gleiche Nähe zu den Stipendiaten hätten und keine Künstler wären. Daraus ließe sich ein ungeahntes soziales Potential entwickeln.

Das zweite war die Erkenntnis, dass die Fragen, die sich die Wissenschaften, die Wirtschaft und auch die Künste stellen, nicht immer, aber oft, die gleichen sind.

Koch: Nämlich?

Joly: Wenn man sich heute Gedanken über den Unterschied zwischen Mann und Frau oder zwischen Leben und Tod macht, dann sind das Fragen, die man sich ebenso in der Medizin, in der Pharmaindustrie, in den Künsten, in der Literatur wie in den Wissenschaften stellt. Ich glaube daran, dass eine Zeit sich Fragen stellt, die sich in den verschiedensten Bereichen wiederfinden, und dass diejenigen, die die Fragen formulieren, nicht wissen, dass zur gleichen Zeit in anderen gesellschaftlichen Kreisen anders über dieselbe Frage diskutiert wird.

Koch: Wie setzen Sie das konkret um?

 Joly: Das mussten wir lernen. Wir haben ab 2002 kleine Workshops organisiert zum Thema „Einsamkeit der Netzwerke“. Eine Gruppe von 12 Personen traf sich einmal pro Monat sechs Monate lang. Es waren Soziologen, Sozialwissenschaftler, Geographen und Künstler, die sich mit Netzwerktheorie befassen und junge Manager, die mit ihren Alumni-Kreisen vernetzt in verschiedenen Unternehmen in Deutschland und in der Schweiz arbeiten. Die haben wir zusammen getan, um zu sehen, wie sie über Netzwerke reden und ob sie eine gemeinsame Sprache finden.

Koch:  Und was haben die Netzwerker in der Wirtschaft von den Künstlern gelernt?

Joly: Ich zitiere einen Satz von einem Elektroingenieur, der beim Konzern Bosch hier in Stuttgart arbeitet. Er war skeptisch, er war von sechs Wochenenden vier Wochenenden lang skeptisch. Aber er kam immer wieder und in seinem Abschlussbericht schrieb er den Satz „Ich musste zuerst lernen zu schätzen, was uns von den Künstlern in diesem Haus angeboten wurde.“ D. h. es sind Ressourcen, die außerhalb der Kreise, die sich für Kultur interessieren, nicht bekannt sind. Und jetzt komme ich zu dem Punkt: was ist das denn?

Beginnen wir mit Literatur. Die Basis von literarischen Texten ist ihre Mehrdeutigkeit. Wie gehe ich mit einem Text um, der etwas sagen kann aber auch etwas anderes. Die Mehrdeutigkeit als Grundprinzip der Literatur lehrt uns außerhalb des binären Systems von diesem „Entweder – Oder“. Die Literatur bringt uns bei, dass es Phänomene gibt, in denen es weder falsch noch richtig gibt oder auch beides. Und das zu lernen, wenn man aus Ingenieur- oder Wirtschaftswissenschaften kommt, ist ein ganz wichtiges Phänomen, mit dem auch in dieser immateriellen Finanzwelt, in der wir leben, sehr viele Menschen langsam umzugehen lernen.

Der zweite Aspekt ist der Aspekt der Nonlinearität. Ich bleibe beim Beispiel der Literatur, weil es sich am leichtesten erklären lässt. Sie haben zwar einen Text, der linear abläuft, d.h. die Wörter werden aneinandergereiht, aber wenn Sie genauer hinschauen, können Sie auch jenseits der semantischen Kette der Wörter einzelne Wörter anders kombinieren. Es sind Reime, rhetorische Figuren, Konstruktionen, die auf eine andere als auf die lineare Struktur der Semantik verweisen. Und das zu lernen, eine nonlineare Lektüre von Texten zu lernen, ist ganz wichtig, um sich von diesem sogenannten linearen Denken zu befreien.

Koch: Dass die Seminaristen, die Stipendiaten irgendwann von dem Geist einer solchen Veranstaltung mitgerissen werden, das kann ich mir gut vorstellen. Aber was sagen die entsendenden Firmen, wenn die zurückkommen?

Joly: Das ist eine interessante Frage. Wir haben am Anfang vielleicht den Fehler gemacht zu glauben, dass wir als Kulturinstitution möglicherweise Firmen bei der Klärung ihrer Probleme helfen könnten. Aber das ist nicht unsere Aufgabe. Dann haben wir verstanden, dass wir einzelne Personen fördern und weiterbringen. Aber ob es sich dann für ein Unternehmen umsetzt, ist eine Frage, die nicht von uns geklärt werden kann. Wir wollen in erster Linie Privatpersonen vernetzen und an dieser Erfahrung teilhaben lassen. Was sie daraus in ihren Firmen machen, ist ihr eigenes Thema, wobei Sie sofort von Firmen sprechen und an große Unternehmen denken. Wir stellen fest, dass wir bei selbstständigen Beratern, Coaches usw. eigentlich noch mehr Erfolg hatten. Auch als Vermittler sind Coaches wichtig, die in der Lage sind, die Erfahrung mit Künstlern für Wirtschaftsleute verbal verständlich zu machen.

Koch: Es gibt ja inzwischen viele Workshops, die über reine Vermittlung von Fachwissen hinausgehen und sie sind sehr beliebt. Das geht von dem inzwischen fast berüchtigten Überlebenstraining bis hin zu Veranstaltungen im Kloster, die beispielsweise der Benediktinerpater Anselm Grün sehr erfolgreich für Daimler Benz anbietet. Aber hier sind die Parallelen leichter zu ziehen, zumal wenn es sich um Führungskräfte handelt. Wie ist denn das bei der Kunst? Wie schwer ist es da, Parallelen zu dieser materiellen Welt zu ziehen?

 Joly: Ein Thema, das uns in den letzten Jahren immer wieder beschäftigt hat, war das Thema „was sind die günstigen Bedingungen, die Innovation fördern?“ Mit dem Thema werden wir hier im Bereich der Kunst stark konfrontiert. Wir haben im Gespräch mit verschiedenen Firmen gesehen, wie diese Themen und die Art, wie wir das bei uns zu klären versucht haben, für sie gewinnbringend ist.

Ein Beispiel:

Die Solitude-Stipendiaten gehen durch ein strenges Jury-Verfahren. Wir erhalten jedes zweite Jahr 1800 Bewerbungen. Die Jury der Akademie wählt 60 bis 65 Personen aus, allesamt exzellente junge Künstlerinnen und Künstler oder auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit hoher Motivation und exzellentem Fachwissen. Was wir ihnen geben, sind Freiräume zum Denken, die Zeit, die zur Verfügung steht und auch Anschlussmöglichkeiten mit anderen, Austauschmöglichkeiten und Zugang zu guten Informationsquellen. Dabei schauen wir nicht auf vorgegebene oder zu erwartende Ergebnisse, sondern lassen sie aufeinander agieren.

Im Gespräch mit verschiedenen Firmen, die im Bereich der Innovation auch versuchen, eigene Labors zu gründen, waren wir überrascht, wie sehr sich unsere Methoden ähnelten.

Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied: Wir freuen uns über jeden Stipendiaten, der unser Haus nach dieser prägenden Erfahrung verlässt, weil wir wissen, er ist für die künftigen Jahre ein Botschafter der Idee von Solitude. Während die großen Firmen, die dieses Risiko eingehen, es als eine Niederlage betrachten, wenn sie von einem Mitarbeiter verlassen werden, weil er woanders angeheuert wurde. Wir sagen dann: im Gegenteil, ihr müsst lernen, wenn ihr die Leute so geprägt und weitergebildet habt, dass es sogar gut für euch ist, dass sie weggehen, denn sie tragen eure Idee weiter.

Koch: Obwohl Sie sich inzwischen auch dieser Welt der Wirtschaft zugewandt haben, ist dennoch immer wieder gelegentlich der Vorwurf zu hören, zuletzt anlässlich des 20. Jubiläums der Akademie Solitude, die Akademie sei ein Elfenbeinturm vor den Toren Stuttgarts und mache zu wenig aus sich. Sie gingen zu wenig nach draußen. Wie begegnen Sie diesem Vorwurf?

Joly: Wer auf Solitude ist und die Ausstellung eines kongolesischen Künstlers sieht, die die Kriegsverhältnisse in seinem Land zeigt, oder ein Symposium über Design, Gestaltung und Produktion besucht, wird mit der Realität von heute konfrontiert, nicht mit einem Elfenbeinturm.

Für ein Haus dieser Größe mit einem kleinen Team hört man verhältnismäßig viel von uns. Einige Veranstaltungen organisieren wir für ein breites Publikum, wie vor kurzem unseren Solitude-Tag an dem Hunderte von Besuchern teilgenommen haben, oder wie unsere jüngste Open-Air Opernproduktion Orfeo im Hof des Schlosses.

Es ist aber so, als wenn Sie einem Max-Planck-Institut für Festkörperforschung vorwerfen würden, dass zu wenige Impulse nach außen kommen. Die Impulse kommen, die sehen Sie dann später bei der Documenta, in Venedig auf der Biennale, in Donaueschingen oder Sie sehen sie im MoMA, oder Sie sehen sie in Princeton. Es ist genauso wie die Anwendung von Forschungsergebnissen in einem Labor. Aber im Gegensatz zu einem Max- Planck-Institut sind wir immer wieder offen, weil wir nämlich mit den Öffentlichkeitsmitteln der Kultur arbeiten und nicht mit denen der Wissenschaft, die sich nach wie vor mit dem sogenannten Public Understanding of Science schwer tut.

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